Die Geschichte einer gefährlichen Reise

Veröffentlicht am 02.03.2015.

Mehr als 87.000 Menschen erreichten Italien in den ersten sieben Monaten des Jahres 2014 mit einem Boot. Ein hohe Zahl - sie entspricht ungefähr der Einwohnerzahl der Stadt Schwerin. Eine Zahl, die dazu einlädt, eine abstrakte Zahl zu bleiben und über deren Höhe man sich leicht aufregen kann. Eine hohe Zahl – erschreckend hoch - von Menschen, die auf diesem Weg ihre Heimat verlassen haben.

Manchmal, in den Fernsehnachrichten oder auf Fotos, sehen wir für einige Sekunden wenige der Gesichter, die zu den Zahlen gehören. In den Blicken, in den Ausdrücken der Gesichter können wir aus weiter Ferne vielleicht ansatzweise erahnen, was diese Menschen erlebt und durchgemacht haben. Streiflichtern gleich verschwinden sie wieder aus unserem Blickfeld und werden so schnell wieder zu dem, was sie auch vorher für uns waren: zu namenlosen Zahlen. Doch hinter ihnen verbergen sich mehr als 87.000 einzigartige Geschichten von Menschen mit Namen und Gesichtern.

Erinnerungen an ein vergangenes Leben

Ahmad und Dana – das sind die Namen von zwei der 500 Flüchtlinge, die am 17. Juni 2014 nach einer 15-tägigen Ãœberfahrt vor der sizilianischen Küste gerettet wurden und ihre Geschichte erzählen wollen. Einen Teil ihrer Geschichte - über die Reise ihres Lebens von Syrien nach Europa. Etwa sechs Monate nach ihrer Ankunft bewohnt das Paar nun mit seinem sechsjährigen Sohn zwei Zimmer einer deutschen Flüchtlingsunterkunft. Die Wände sind kahl, man sieht weder Fotos, noch Bilder an den Wänden. Die Möbel könnten in jeder Jugendherberge zu finden sein. Nichts in diesen Zimmern sagt etwas über die Menschen aus, die in ihnen leben, denn sie haben nichts mehr. Die einzigen Erinnerungen an ihr früheres Leben und das, was es einmal ausgemacht hat, befinden sich auf einem Samsung Smartphone. Viele Fotos hat das syrische Paar gelöscht, die Last der Erinnerung wiegt zu schwer.

Auf einem Foto sieht man ihren damals dreijährigen Sohn Samir. Er trägt einen Anzug, er lacht in die Kamera. „Das war unser Haus“, erzählt Ahmad, 35. Um ihre Familien in der Heimat zu schützen, möchten sie ihren Familiennamen, ihre Fotos und ihren jetzigen Aufenthaltsort nicht gedruckt wissen. Er spricht Englisch, seine Frau Dana, 25, kaum. Deshalb erzählt er den größten Teil ihrer Geschichte und übersetzt ihre Antworten aus dem Arabischen. „Es war gerade fertig, als eine Bombe hier einschlug“, er zeigt auf den Bildausschnitt, in dem sein Haus zu sehen ist. Es stand in einem Außenbezirk von Damaskus. Aus Angst vor den Bomben flüchtet die Familie zu Ahmads Eltern, sie nehmen nur einige Kleider und wichtige Papiere mit. Vor dem Krieg arbeitete Ahmad als Mechaniker in einer Werkstatt, nun repariert er Autos auf der Straße und verdient genug Geld, sodass sich die kleine Familie bald wieder eine eigene Wohnung leisten kann. Sie fühlen sich relativ sicher. Als junger Mann hatte Ahmad den verpflichtenden Wehrdienst geleistet und im Sicherheitsdienst gearbeitet, sich seither aber aus allen Konflikten herausgehalten. 2012 will Assads Armee ihn einziehen. „Für mich gibt es keinen Unterschied zwischen den Syrern, ich kann meine Landsleute nicht einfach umbringen.“ Als Armeeverweigerer droht ihm eine harte Strafe, vielleicht würde die Entscheidung ihn sogar das Leben kosten. Deshalb verkauft er sein Auto und flieht mit Frau und Kind nach Ägypten. Seinem Vater verspricht er, ihn zu sich zu holen, sobald er in Ägypten genug Geld verdient hat. Doch 2013 beginnen auch die Konflikte in Ägypten sich zu verschärfen, mit dem Sturz von Präsident Mursi werden Syrer diskriminiert. Die Grenzen werden geschlossen, Ahmad kann kein Geld mehr nach Syrien schicken, die Familie bekommt keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung.

Reisevorbereitungen

Ein Freund erzählte ihnen von Europa, gemeinsam treffen sie die Entscheidung, sich noch weiter von ihrer Heimat zu entfernen. „Ich hatte Angst vor der Reise auf dem Meer, aber der Mann, der alles für uns organisieren sollte, beruhigte uns. Das Schiff sei sicher, wir könnten die Reise genießen. Es gäbe gutes Essen und davon genug“, erzählt Dana. Sie sprachen mit Freunden, die schon nach Europa ausgewandert waren, doch die schwärmten immer nur von ihrem neuen Leben, „als ob es diese Bootsfahrt gar nicht gegeben hätte.“ Außerdem kosteten die Anrufe nach Europa viel Geld, deshalb stellten sie nur wenige Fragen über die vor ihnen liegende Reise. Mit dem Geld, was Ahmad in Ägypten als Automechaniker verdient hat, bezahlt er den Schlepper. 5.000 US-Dollar für die Ãœberfahrt, zusätzliche 500 US-Dollar bezahlt er für drei Schwimmwesten. Sie würden auf dem Boot in ihrer Kabine für sie hinterlegt, versichert ihnen der Mann, dessen Namen die beiden nicht kennen. Sie sehen sich an und lachen – über ihre eigene Naivität.

Die Familie wird in einem Hotel in Alexandria untergebracht. Jeden Tag sollen sie sich ab sechs Uhr morgens bereithalten, es könnte jeden Tag soweit sein. Eine Montur Wechselkleidung und etwas zu essen dürfen sie als Gepäck mitnehmen, alles andere müssen sie zurücklassen. An einem Tag werden sie zu einer kleinen Halle gebracht, mit 400 anderen Menschen warten sie stundenlang. Nichts passiert. Ihre Fragen beantwortet niemand. Am Ende des Tages werden sie wieder zurück ins Hotel gebracht. Am nächsten Tag sollen sie in einen Bus steigen. Nach einer zweistündigen Fahrt müssen sie wieder warten, am Ende des Tages werden sie wieder zurück ins Hotel gebracht. Ahmad und Dana sind unzufrieden und verunsichert, Ahmad teilt einem Mann mit, dass sie nach Syrien zurückkehren und nicht nach Europa fahren wollen. Doch zu diesem Zeitpunkt gibt es kein Zurück mehr. Die bewaffneten Männer machen ihnen unmissverständlich klar, dass sie mit dem Boot fahren werden – ob sie wollen oder nicht.

Unterwegs auf hoher See

Am nächsten Tag ist es dann so weit. Sie werden zum Strand gebracht, dort stehen kleine Boote von der Größe eines Ruderboots für sie bereit. Jeweils 30 Personen werden auf ein Boot gequetscht. „Wir waren nur Familien, alle hatten Angst um ihre Kinder. Ich fragte nach den Schwimmwesten, doch man sagte uns, wir würden nur eine kurze Strecke mit dem kleinen Boot fahren und dann auf ein großes Schiff umsteigen. Dort läge alles für uns bereit“, erzählt Ahmad. Nur eine Handbreit habe die Bootswand noch aus dem Wasser geragt, zeigt Dana an, so überladen sei es gewesen. Die See ist nicht ruhig, Wasser schwappt ins Boot. Zudem hat es ein Leck. Verzweifelt schöpfen sie mit Tassen und Bechern das Wasser aus dem Boot. Selbst den kleinsten Kindern ist die Brenzlichkeit der Situation bewusst. „Papa, warum hast du mich hierher gebracht, fragte ein weinender Junge“, erinnert sich Ahmad. Samir habe er schützend zwischen seine Knie gesetzt, versucht ihn abzuschirmen und nach einiger Zeit sei das übermüdete Kind eingeschlafen.

Nach einer Stunde sehen sie endlich ein großes Boot. Es ist nicht das hochgelobte Reiseboot: Was sie vor sich sehen, ist ein verdrecktes Schiff mit einem Unterstand und ohne Kabinen. Nach kurzer Zeit müssen sie wieder umsteigen auf ein deutlich kleineres Schiff. 20 Meter lang sei es gewesen, mit zwei Decks und dem Innenraum des Schiffes. Mit 100 Menschen verweilen sie dort drei Tage, ohne jede Fortbewegung. Kalt und stürmisch sei die See gewesen, Dana ist oft seekrank. Nach drei Tagen treffen zwei weitere Boote mit jeweils 100 Menschen bei ihnen ein. Mit 300 Menschen an Bord geht es endlich los Richtung Europa.

Es gibt nicht genug Platz unter Deck, deshalb dürfen nur Frauen und Kinder hinein. Fotos dürfen sie auf dem Schiff nicht aufnehmen. Alles ist streng reglementiert, bewaffnete Männer überwachen die Einhaltung der Regeln. Dana hat einen starken Hautausschlag, die großen Pusteln auf ihrer Haut platzen auf und entzünden sich. Ahmad bemerkt, wie seine Frau immer schwächer wird, sie isst kaum noch. Ohnehin gibt es kaum etwas zu essen. Auf Deck kann Ahmad eine Scheibe Brot ergattern, sie ist mit grünem Schimmel bedeckt. Mit Handbewegungen begleitet er seine Erzählung. Sorgfältig habe er den Schimmel abgekratzt, das Brot auf einem Feuer geröstet und anschließend seiner Frau gebracht. Nach dem Essen fühlt sie sich etwas besser und begleitet ihn an Deck, um ein wenig frische Luft zu schnappen – und sieht, was sie gerade gegessen hat. Sie ekelt sich, doch der Hunger zwingt sie zu essen, was noch zu haben ist. Jeden Tag werden die Rationen kleiner, von ihrem mitgebrachten Proviant ist längst nichts mehr übrig. Dana holt ein Müslischälchen hervor, diese Schüssel voll Reis mussten sie sich mit acht Personen teilen. „Du musstest schnell essen, durftest dich nicht umdrehen oder ablenken lassen, sonst hat jemand anders deine Portion gegessen“, sagt sie. Trotz der allgegenwärtigen Verzweiflung hätten sie auf dem Schiff gelacht. „Wir haben uns an unser altes Leben erinnert und es kam uns so lächerlich vor, dass wir uns um einen Löffel Reis stritten. Die meisten von uns waren Familien aus Syrien, vor dem Krieg ging es uns gut.“ Nach einer Woche sind die Vorräte aufgebraucht, auch das Trinkwasser wird knapp. Etwa 100 ml bekommt jeder Passagier pro Tag, gerade genug, um am Leben zu bleiben. Einige halten es nicht aus und trinken Meerwasser. Sie haben ein kleines Netz dabei, das sie auswerfen. Meist fangen sie nur Tintenfische, die schmecken wie Gummi, doch in der Not ist alles egal.

Der Streit der Schlepper

An Bord ihres Schiffes sind drei Ärzte, einer von ihnen hat Medikamente dabei und kann Danas Hautausschlag behandeln, sie erholt sich ein wenig. Doch auf sie warten acht Tage auf hoher See ohne Nahrung und Trinkwasser, die sie und alle anderen Passagiere völlig entkräften. Nach zehn Tagen auf See kommt das Boot für gut einen Tag zum Stillstand. Ahmad kann einem Streit zwischen dem Kapitän, der Besatzung und anderen Mitgliedern der Schlepperbande, die über Satellitentelefon miteinander kommunizieren, beiwohnen. „Ein anderes, weniger wertvolles Boot sollte uns an dieser Stelle abholen und das letzte Stück nach Italien fahren, denn die italienische Regierung konfisziert jedes Flüchtlingsboot. Das Boot, auf dem wir waren, war zu wertvoll, um außer Dienst genommen zu werden und sollte wieder zurück nach Ägypten fahren. Doch scheinbar hatte sich die Gruppe zerstritten. Es wurde kein Boot aus Italien geschickt und der Kapitän drohte, er würde alle Passagiere über Bord werfen und nach Ägypten zurückkehren, wenn nicht innerhalb eines Tages ein Boot käme. Wir waren alle sehr schwach, aber ich konnte die Männer auf dem Schiff zum Kampf mobilisieren, für den Fall, dass sie versuchen sollten, uns alle umzubringen.“

Am nächsten Tag treffen sie ein Boot: ein kleineres Boot aus Holz, auf dem sich bereits 200 Menschen befinden. Es hat noch ein wenig Trinkwasser an Bord, jeder Passagier auf Ahmads und Danas Boot bekommt einen Schluck. Dann müssen sie umsteigen. Bisher ist noch keiner gestorben, doch viele sind so geschwächt, dass sie den Bootwechsel nicht alleine schaffen. Dana verliert das Bewusstsein und wird von den Männern bei hohem Wellengang auf das andere Boot geworfen. „Dana ist rübergeflogen“, sagt Ahmad mit einem lauten Lachen, Dana stimmt ein. Es ist das ungläubige Lachen, dass sie all dies tatsächlich erlebt und überlebt haben, dass es kein böser Traum war, aus dem sie irgendwann erschreckt, aber unbeschadet aufgewacht sind.

" Wir haben dafür gebetet, sterben zu dürfen"

Ihn habe nur das Verantwortungsbewusstsein, das er für seine Familie empfindet, am Leben erhalten, sagt Ahmad, und die Schuldgefühle, dass er sie dieser Gefahr ausgesetzt hat. „Viele haben daran gedacht, sich über Bord zu werfen und einfach zu sterben. Getan hat es niemand, wie könnten wir unsere Frauen und Kinder zurücklassen? Aber wir haben dafür gebetet, sterben zu dürfen, nicht noch einen Tag weiterleben zu müssen.“ Nach 15 Tagen endet ihre Reise, ein italienisches Rettungsschiff kann alle 500 Passagiere retten, eine alte Frau muss reanimiert werden – wo sie heute ist, wissen sie nicht. Noch an Bord ihres Schiffes bekommen sie etwas zu essen und zu trinken - die beste Mahlzeit ihres Lebens, ohne die es einige nicht auf das Rettungsschiff geschafft hätten. Auf dem italienischen Schiff schalten sie ihr Smartphone ein und nehmen Fotos auf. Man sieht erschöpfte Menschen, die am Boden kauern, weil sie sich nicht auf den Beinen halten können. Auf einem Foto sieht man Samir mit anderen Kindern. Er lächelt. Er leide heute nicht unter Alpträumen, denn die Erwachsenen hätten sich für die Kinder zusammengerissen, Spiele organisiert. „Für meinen Sohn habe ich versucht, diese Reise zu einem Abenteuer zu machen. Wir haben oft die Delfine und andere Meerestiere beobachtet und uns ausgemalt, was wir alles essen werden, wenn wir ankommen. Er wollte Pizza, Hamburger und ein Eis – und es war das erste, was ich ihm von dem Bargeld, das wir noch hatten, in Italien gekauft habe. Heute noch erzählt er von den springenden Delfinen.“

Neuanfang in Deutschland

Wie sie selbst mit der Situation umgehen, dazu sagen sie nichts. Immer wieder erzählen sie, wie grausam und schmerzhaft es ist, zu hungern. Genug zu essen zu haben, ist ihnen sehr wertvoll geworden. Ungleich vielen anderen, die es nach Europa geschafft haben, schweigen sie nicht über die Strapazen der Ãœberfahrt. Sie erzählen den Menschen in ihrer Heimat, wie rücksichtslos mit ihnen umgegangen wurde, was Menschen für Geld bereit sind, anderen Menschen anzutun. „Mit meinem heutigen Wissen wäre ich lieber in Syrien ins Gefängnis gegangen und hätte so meine Frau und meinen Sohn nicht in solche Gefahr gebracht“, erklärt Ahmad. Er zeigt weitere Fotos auf dem Smartphone. Fotos von seinem Vater, von seiner Familie, von seinen Freunden, die er seit fast drei Jahren nicht mehr gesehen hat. Vor dem Ausbruch des Kriegs habe er etwa 100 Nummern in seinem Telefon gespeichert, nur noch die Hälfte sei am Leben. Danas Mutter ist taubstumm, sie können nur über die Gebärdensprache miteinander kommunizieren. Weder Dana noch ihre Mutter haben ein Laptop oder die Möglichkeit zu skypen. Ahmads Augen füllen sich mit tränen, sein Blick wandert zum Fenster hinaus, er kann nicht mehr weitersprechen. Als er sich wieder gefasst hat, spricht er über die Zukunft. Er wollte unbedingt nach Deutschland, weil er als Automechaniker bei Mercedes arbeiten möchte. In Syrien schon hat er häufig Autos der Marke repariert und kennt sich damit aus. Dana ist wieder schwanger, sie wollen ihren Kindern eine gute Zukunft ermöglichen und eines Tages, wenn Frieden herrscht, in ihr Land zurückkehren. Damit ihr Sohn den Kontakt zur Heimat nicht verliert, telefonieren sie mindestens einmal pro Woche mit Ahmads Eltern und Geschwistern. Sie haben seit Kurzem eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland, sie wollen einen Integrationskurs belegen und dann könnte Ahmad eine Arbeitserlaubnis bekommen.

Bis sie eine eigene Wohnung gefunden haben, müssen sie sich Küche und Bad weiterhin mit anderen Flüchtlingsfamilien in ihrem Haus teilen. Mit Menschen, die aus anderen Kulturkreisen kommen, andere Sprachen sprechen und oft wenig sorgfältig mit ihren Sachen umgehen. Sie sehnen sich nach einer eigenen Küche, in der es noch genauso sauber aussähe, wie sie sie verlassen habe, sagt Dana. Doch sie sind dankbar, noch am Leben zu sein und ein Leben ohne permanente Lebensbedrohung führen zu dürfen.

Am Tag zuvor haben sie einen Schneemann gebaut. Auch ihn haben sie mit einem Foto dokumentiert - der Anfang einer neuen Serie von Bildern.


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