Unter Quarantäne - 21 Tage der Angst

Veröffentlicht am 25.07.2015.

Es war nicht leicht, einen Interviewtermin, die Basis für dieses Portrait, mit Solomon Samura zu bekommen. Nicht, weil ich erst eine Vertrauensbeziehung zu ihm hätte aufbauen müssen oder weil er nicht gewollt hätte – nein, Solomon ist so beschäftigt, dass man ihn selten antrifft. Und wenn man den 30-jährigen antrifft, telefoniert, plant und organisiert er. Fünfzehn-Stunden-Tage sind für ihn eher die Regel als die Ausnahme. Seine Geschäftigkeit, sein Einsatz und dass man ihm sein Arbeitspensum nicht anmerkt, das zeichnet ihn wohl am stärksten aus. Und doch soll es in diesem Text nicht um seine Geschäftigkeit gehen, sondern um eine dreiwöchige Pause - wohl eine Zwangspause - der Solomon im August des letzten Jahres unterlag.

Solomon ist Assistenzarzt in seinem Heimatland Sierra Leone, behandelt eigenverantwortlich Patienten im Krankenhaus und nimmt kleinere chirurgische Eingriffe wie Kaiserschnitte vor. Als im vergangenen Jahr das Ebolavirus in seinem Land ausbrach und sich innerhalb weniger Wochen zu einer grassierenden Epidemie in fast allen Teilen des Landes entwickelte, arbeitete er im Regierungskrankenhaus von Makeni, einer Stadt im Norden des Landes.

„Zu Anfang gab es nur im Osten des Landes Fälle von Ebola. Obwohl wir wussten, dass die Krankheit mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zu uns getragen werden würde, waren wir nicht vorbereitet, als wir erste Verdachtsfälle hatten.“ Sie hatten zwar Schutzausrüstungen, bekamen aber kein Training, um zu lernen, wie man sie an- und nach Gebrauch sicher wieder auszieht. Aus Angst sich anzustecken, blieben mehr und mehr seiner Kollegen zu Hause, als sich in anderen Landesteilen vor allem Pfleger und Ärzte ansteckten. Das Ebolavirus wird ausschließlich über Körperflüssigkeiten übertragen und die Viruskonzentration im Körper eines Erkrankten steigt mit Fortschreiten der Krankheit. Deshalb sind es vor allem Pflegende, Mediziner und Familienangehörige, die sich am meisten während der Epidemie ansteckten. Doch Solomon wollte seiner Verantwortung als Mediziner nachkommen und behandelte weiter. „Als Ärzte und Pfleger kämpfen wir wie Soldaten an der Front, oft gegen unsichtbare Feinde. Wie könnte ich einfach das Schlachtfeld räumen, wenn es doch mein Auftrag ist zu kämpfen?“ Dass ihn die Krankheit ausgerechnet zu Hause treffen würde, damit rechnete er nicht.

Gemeinsam mit drei seiner Brüder und einem Freund, der auch im Krankenhaus arbeitete, teilte er sich eine Wohnung. Als sein Mitbewohner Joseph an einem Tag im August über Kopfschmerzen klagte, machte er sich keine großen Sorgen und brachte ihm lediglich ein Schmerzmedikament. Als sich am darauffolgenden Tag jedoch andere Symptome einstellten, bestand Solomon darauf, dass er ins Krankenhaus eingeliefert und nicht, wie Joseph es wünschte, zu Hause gepflegt würde. Er nahm ihm Blut für einen Test ab, doch zu dieser Zeit gab es nur ein Labor im ganzen Land, das Ebolatests durchführte. Es gab auch nur ein Behandlungszentrum im ganzen Land und so blieb Joseph im Regierungskrankenhaus von Makeni.

In Sierra Leone stellt das Krankenhaus üblicherweise nur die medizinische Betreuung, die Pflege und die Versorgung mit Nahrung übernehmen die Verwandten. Josephs Verwandte wohnten jedoch in einem anderen Landesteil und konnten erst einige Tage nach seiner Einlieferung anreisen. Deshalb kümmerte sich Solomon um ihn. „Joseph hat tagelang versucht so zu tun, als ob alles in Ordnung sei und abgestritten, dass er Ebola haben könnte. Doch hinter geschlossenen Türen habe ich ihn weinen und erbrechen hören und wusste, es ist nichts in Ordnung.“ Tag für Tag verschlechterte sich Jospehs Zustand und Solomon ahnte, dass er die Krankheit nicht überleben würde. Als Freund besuchte er ihn mehrmals täglich, brachte ihm kalte Energydrinks, damit er Kraft tanken konnte, lud sein Prepaid-Handy immer wieder auf, damit er so viel telefonieren konnte wie er wollte. Als Arzt versorgte er ihn mit Medikamenten gegen die Schmerzen, legte ihm einen Tropf und immer wieder die Sauerstoffmaske an. „Kurz bevor Joseph ins Koma fiel, wollte er auf die Toilette gehen. Ich hatte immer Handschuhe an, aber als er vor mir stürzte, fing ich ihn auf und unsere Körper berührten sich an mehreren Stellen. Obwohl wir zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht wussten, ob er Ebola hat, wusste ich, dass diese Berührung auch mein Schicksal hätte entscheiden können – doch wie hätte ich ihn einfach zu Boden stürzen lassen können?“

Nur sechs Tage nach dem Auftreten der Kopfschmerzen verstarb Joseph mit Mitte Zwanzig. Noch ein letztes Mal betraten Solomon und Jospehs Verwandte das Krankenzimmer, um sich von ihm zu verabschieden. „Als wir das Zimmer verließen, legte sein Bruder mir die Hand auf die Schulter – als Dank. Er trug noch die Handschuhe, mit denen er kurz zuvor Joseph berührt hatte. Noch heute kann ich seine Hand spüren. Als dann wenige Stunden später das Labor bestätigte, das Jospeh Ebola gehabt hatte, wusste ich, dass ich mich höchstwahrscheinlich angesteckt hatte. Die Gedanken, die dann durch meinen Kopf schossen, drehten sich nur darum, wie ich meine Brüder zu Hause am besten schützen könnte.“

Die Behörden waren im August noch völlig überfordert und stellten Kontaktpersonen von Ebolakranken nicht konsequent unter Quarantäne. Doch Solomon wusste, dass er, seine Brüder und Jospehs Familie aus Sicherheitsgründen unter Quarantäne gestellt werden müssten und nahm es selbst in die Hand: Als Josephs Familie ohne weitere Beobachtung oder Untersuchungen abreiste, informierte er die Behörden in ihrem Distrikt und bat sie, die Familie zu isolieren. Tatsächlich hatten sich Josephs Bruder und sein Vater angesteckt, beide verstarben innerhalb weniger Tage. Seine Brüder bat er, die gesamte Wohnung mit Chlorwasser auszuspülen und Jospehs Zimmer nicht mehr zu betreten. Er wechselte seine Kleidung außerhalb des Hauses und plünderte sein Konto. Er kaufte haltbare Vorräte, Trinkwasser und Benzin für sein Motorrad. „Für den Fall, dass bei mir Symptome auftreten sollten, wollte ich mit dem Motorrad zum Behandlungszentrum fahren. Zu der Zeit gab es kaum Krankenwagen im Land und viele Leute starben auf den strapaziösen Reisen.“ Zu Hause bekam jeder einen Stuhl, Trinkgefäß und Essbesteck für die nächsten drei Wochen zugeteilt, die nur er anfassen durfte. Jeder wusch seine Wäsche separat, keiner durfte den anderen anfassen. Jeder kontrollierte seine Körpertemperatur drei Mal pro Tag. Solomon wusste, dass er den engsten Kontakt mit dem Virus gehabt hatte und verbot seinen Brüdern, sein Zimmer zu betreten und das gleiche Badezimmer wie er zu benutzen. Immer wenn er sein Zimmer verließ, trug er Handschuhe, lehnte sich nirgendwo an. Jeden Tag warfen sie den Nachbarn Geld in einen Eimer mit Chlorwasser, die es dann aus dem Eimer herausfischten und ihnen damit frische Nahrungsmittel und Trinkwasser kauften.

„Ich war noch nie länger als drei Tage am Stück nicht außer Haus. Drei Wochen erschienen mir eine Qual. Dazu die Unsicherheit, das Warten auf die Krankheit.“ In seiner Gedankenwelt drehte sich alles nur um Ebola. Und tatsächlich bekam Solomon nach einer Woche Quarantäne starke Kopfschmerzen. Es könne auch nur der Stress und die Anspannung sein, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Als er dann Hals- und Muskelschmerzen verspürte, wuchs seine Sorge. „Ich weiß bis heute nicht, ob ich Ebola hatte, aber es gibt bestimmte Zeichen, die dafür sprechen.“ Die Ebola-Krankheit verläuft den Symptomen nach in der Regel in zwei Phasen. Nach einer Inkubationszeit, in der Patienten nicht ansteckend sind, verursacht die Krankheit Fieber, Kopf-, Hals- und Muskelschmerzen. Das Virus verbreitet sich über das Blut und schaltet zuerst das Immunsystem aus, dann greift es andere Zellen an. Das führt in der zweiten Phase bei einem Teil der Patienten zu starken Blutungen, Blutgerinnseln, Dehydrierung und Organversagen, das zum Tod führt. Die Krankheit verläuft jedoch je nach Mensch in unterschiedlichen Schweregraden und auch wenn es keine heilende Therapie gegen Ebola gibt, kann man doch die Symptome bekämpfen und den Körper im Kampf gegen das Virus bestmöglich unterstützen. Vor allem eine früh einsetzende Symptomtherapie wirkt sich sehr stark auf die Ãœberlebenschancen des Patienten aus.

Um seine Eltern nicht zu beunruhigen, erzählte Solomon ihnen nichts von Jospeh, der Quarantäne und seinem Unwohlsein, doch mit zwei Arztkollegen stand er in engem Kontakt. Sie brachten ihm regelmäßig Medikamente, die sie mit einigem Sicherheitsabstand vor dem Haus liegen ließen, wo Solomon sie auflas. Er legte sich selbst Flüssigkeitsinfusionen, setzte sich Spritzen, ruhte sich viel aus, aß regelmäßig und trank bis zu 10 Liter Wasser pro Tag um Dehydrierung vorzubeugen. „An den ersten zwei Tagen der Krankheit habe ich geweint. Nicht um mich, ich hatte Angst, wer sich um all die Menschen kümmern würde, die von meiner Unterstützung abhängen. Sie würden am meisten leiden, wenn mir etwas passierte.“

In Sierra Leone gibt es kein funktionierendes Sozialsystem und so tragen gut verdienende Familienmitglieder häufig die Verantwortung für viele andere. Solomons Eltern hätten keinem ihrer neun Kinder die Studiengebühren je bezahlen können, doch sein Onkel Brimah, bei dem er wohnte, erkannte Solomons Potential und finanzierte einen Teil seines Studiums. Nach einigen Semestern begann Solomon neben dem Studium zu arbeiten und bezahlte mit seinem Lohn seine Studiengebühren sowie das Schulgeld und die Bücherkosten zwei seiner Brüder. Obwohl er selbst noch Assistenzarzt ist, finanziert er mittlerweile den Lebensunterhalt und die Ausbildung von vier Personen aus seiner Verwandtschaft. Eine eigene Familie zu gründen, kann er sich zur Zeit nicht leisten.

„Meine Brüder hatten große Angst, als sie bemerkten, dass es mir nicht gut ging. Also habe ich mich zusammengerissen, um sie zu beruhigen, doch an einem Tag war ich so schwach und fühlte mich so schlecht, dass ich im Krankenhaus anrief, damit sie mich abholten. Ich weiß nicht warum, doch als ein Kollege das Gespräch annahm, hatte ich mich urplötzlich umentschieden und erzählte ihm nichts von mir, sondern bat nur um eine Update aus dem Krankenhaus.“

In seinem Glauben an Gott fand er schließlich den Trost und die Zuversicht, die er brauchte, um die sich ständig um die Krankheit drehenden Gedanken zu unterbrechen. „Die Quarantänezeit hat mich Gott sehr nahe gebracht, nichts konnte mich mehr von ihm ablenken. Tag und Nacht habe ich gebetet, in der Bibel gelesen, Bibelverse auswendig gelernt und recherchiert. Wenn ich genug Kraft hatte, bin ich vor ihm aufgestanden.“ Solomon wurde in eine muslimische Familie hineingeboren und islamisch erzogen, doch als er zu seinem Onkel Brimah zog, der Christ ist, wurde auch er Christ. „Ich bin aus einer starken inneren Ãœberzeugung meinen Glauben gewechselt, doch mit den Jahren ist mein Glaube oft im Alltag untergegangen. Als Arzt habe ich in der Vergangenheit zu sehr auf meine eigenen Fähigkeiten und mein Wissen vertraut, doch während der Quarantäne habe ich erkannt, dass ich wohl dazu berufen bin, verantwortlich zu handeln, aber ich nur in Gott alle Sicherheit finde.“ Diese neue Erkenntnis begleite ihn seither und habe vor allem seinen Arbeitsalltag verändert.

Am 15. Tag der Quarantäne fühlte Solomon die körperliche Schwäche zurückweichen. Weil immer noch keine staatliche Behörde bei ihnen aufgetaucht war – weder um sie mit Nahrungsmitteln zu versorgen, ihren Gesundheitszustand zu überprüfen oder die Nachbarn zu schützen - rief Solomon einige Journalisten an und gab - mit einigen Metern Abstand - Interviews, um auf diesen Missstand hinzuweisen. „Ich wusste, wie ich reagieren musste und habe freiwillig alle Sicherheitsvorkehrungen eingehalten, aber viele andere wissen es nicht. Darauf wollte ich öffentlich aufmerksam machen.“ Dass ein Journalist alles mit einer Videokamera dabei aufnahm, bemerkte er nicht. Auch nicht, dass er es in die Abendnachrichten schaffte. Erst als abends Dutzende Anrufe von Freunden und Familienangehörigen bei ihm eingingen, wurde ihm klar, welche Welle er losgetreten hatte. Auch die Behörden reagierten und setzten postwendend einen Polizeibeamten vor seine Haustür, um ihn am Verlassen seines Hauses zu hindern. „Versorgt wurden wir immer noch nicht, aber immerhin muss ihnen klar geworden sein, was sie versäumt haben.“

Leider war es im August erst der Anfang des großen Chaos; die Behörden weit davon entfernt, die Situation auch nur annähernd unter Kontrolle zu haben. Sich der Gefahr zu entziehen, war keine Option für Solomon und so nahm er, nachdem die Quarantänezeit abgelaufen war und er sich wieder vollkommen gesund fühlte, seine Arbeit im Krankenhaus wieder auf und beteiligte sich wenige Wochen später Vollzeit in der Bekämpfung der Epidemie. „Auch wenn ich manchmal sehr frustriert und auch wütend auf meines Landsleute war, dass sie so unvernünftig reagierten und die Ausbreitung des Virus so erst ermöglichten, so habe ich doch nie daran gedacht, aufzugeben.“

Etwa ein Jahr nach dem Ausbruch der Epidemie in Sierra Leone, gibt es zwar immer noch Fälle von Ebola im Land, aber die Fallzahlen sind drastisch gesunken, die Behörden haben ein umfangreiches Netz aufgebaut, um auf Krankheitsherde reagieren zu können. Solomon arbeitet wieder in einem normalen Krankenhaus und leistet hauptsächlich Geburtshilfe. Und so wie er unter der Quarantäne persönlich viel gelernt hat, hofft er, dass auch sein Land Lektionen aus der Epidemie mitnimmt.


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Überlebt - das Leben nach Ebola

Veröffentlicht am 25.07.2015.