Wie es die Ironie wollte trug der Mann eine dunkelblaue Weste, auf dessen Rückseite in Weiß die beiden deutschen Worte „Die Dachdecker“ standen, obgleich er genau das Gegenteil tat: Er riss ein Haus ab. Von der Bedeutung der Worte auf seinem Rücken hatte er mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Ahnung, die Weste nur der Praktikabilität wegen auf dem Altkleidermarkt gekauft, denn Bekleidungsgeschäfte gibt es in Sierra Leone fast nicht.
Es war nicht sein Haus, das er abriss, sondern das eines Unbekannten. Und er riss es ab gegen den Willen des Besitzers, vollkommen legal. „Der Dachdecker“ war im Auftrag der Regierung gekommen, die momentan viele illegale Gebäude in der ganzen Stadt entfernen lässt, um Freetown sicherer zu machen - so heißt es in mehreren lokalen Medien.
In Freetowns Strandgegend und in den angrenzenden Straßen sieht es aus wie nach einer Naturkatastrophe - einer Ãœberschwemmung oder einem Taifun. Gefallene Zementblöcke bedecken den Boden und machen den Grund kaum begehbar, vom Wetter verfärbtes Wellblech ragt in die Luft. Dazwischen sieht man bunt gekleidete Menschen über die Ãœberreste ihrer Häuser klettern, sie versuchen, zu retten, was sie noch retten können. Am Ufer zerlegen Männer Dächer in ihre Einzelteile und transportieren Holzpfähle und Wellblechmatten auf Booten davon. Es ist erstaunlich ruhig.
Die Abrisse seien eine Reaktion auf vor allem zwei Vorfälle, denn vor wenigen Wochen wurde am Strand von Freetown abends eine Frau vergewaltigt und später ermordet und in der Nähe ein Ausländer ausgeraubt. Die Strandgegend soll für Touristen attraktiver werden, heißt es vom Ministerium für Tourismus und Kultur. Auch in den vielen Slums rund um die Stadt, von denen viele am Wasser gelegen sind, ist die Kriminalität hoch. Wenn man einfach alles abreißt, vertreibt man die „bad guys“ und kann dafür bessere und sichere Strukturen aufbauen, so lautet die Theorie. Der Kollateralschaden scheint dabei erst einmal egal.
Zwei Wochen bevor das Abrisskommando eintraf wurden die vielen kleinen Händler, Bewohner, Restaurant- und Barbesitzer informiert, dass alle Gebäude, die nicht offiziell bei der Regierung registriert seien, abgerissen würden. Solche Warnungen hatte es schon oft gegeben, meinten die Betroffenen, und nie sei jemand gekommen. Deshalb waren die meisten nicht darauf vorbereitet, dass sie wirklich kamen. Nicht wenige wussten auch nicht, dass sie illegal waren, denn sie zahlten ja Miete an den lokalen Chief oder einen angeblichen Besitzer. Beim kleinsten Anzeichen von Widerstand versprühte die Polizei großflächig Tränengas.
Mehr als 1000 Menschen, hauptsächlich Familien, unter ihnen viele Kinder, sind bisher durch die Abbrucharbeiten obdachlos geworden. Die meisten von ihnen sind sehr arm und gehören zu der Bevölkerungsschicht, die am Tag weniger als einen US-Dollar zur Verfügung hat. Wie viele beziehungsweise wenige von ihnen nun tatsächlich kriminell oder eine Gefährdung für Touristen und andere Bürger sind, lässt sich nicht sagen.
Für sie gab es keine Alternative zu den Slums, jede andere Gegend in Freetown ist für sie unerschwinglich. Nun wurde auch diese Existenz zerstört; wie, wo und wann sie sich wieder etwas Neues aufbauen können, weiß kaum einer der Betroffenen. Sie haben in der Zwischenzeit mehrere Schulen besetzt, um den Stürmen der Regenzeit nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Der Unterricht dort fällt bis auf weiteres aus, auch wenn dort zur Zeit eigentlich die jährlichen, nationale Abschlussprüfungen abgelegt werden sollten, die aufgrund der Ebolaepidemie um drei Monate nach hinten verschoben wurden. Die Schüler, die von den Schulbesetzungen betroffen sind, werden ein weiteres Jahr verlieren.
Während des Bürgerkriegs blieb Freetown lange Zeit unbesetzt, deshalb flüchteten mehr und mehr Menschen aus den ländlichen, von den Rebellen besetzten Gebieten in die sichere Hauptstadt. Innerhalb weniger Jahre stieg die Bevölkerung um mehrere Hunderttausend. So entstanden die Slums. Die Regierung pokert mit dieser Abrissaktion darauf, dass ein Teil der Slumbewohner in ihre Dörfer zurückkehrt und nicht wieder an anderen Stellen Freetowns versucht, sesshaft zu werden. Dass man eine Entvölkerung auch weniger brutal in Angriff nehmen könnte, steht nicht zur Debatte.
Wenige Tage später sieht man am Strand ein abgestecktes Grundstück und Materialien für ein Fundament. Der Neuaufbau beginnt schon. Drei Chinesen steigen aus einem Auto, einer von ihnen hat das Grundstück gemietet. Alle Neubauten müssen nun einem vorgegeben Format, dem „American Standard“, entsprechen. Der Kostenpreis nur für den Bau liegt bei 80,000 US-Dollar und aufwärts. Welcher Sierra Leoner kann sich das leisten?
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